In die Sterne tauchen



 

Gestern war ich in romantischen Gedichten so sehr vertieft, dass ich länger als gewöhnlich in der Bibliothek geblieben bin. Als ich den Saal verließ und mich nach draußen begab, sah ich, dass die Nacht schon angebrochen war und musste, die Türklinke in der Hand, innehalten. Der nächtliche Himmel, der mich umgab, war von einer Klarheit und einer Schönheit, wie ich sie selten gesehen hatte. Es war Vollmond, und die sanfte Lichtkugel ragte aus den Waldwipfeln heraus, als wäre sie die schönste Perle des Kranzes einer Göttin. Ihren mysteriösen Schimmer warf sie auf die dunklen Bäume und der Wald sah wie verzaubert aus, strahlend und durchsichtig wie ein Kristall, und plötzlich war mir fast wehmütig zumute, weil ich die unendlichen Weiten des Weltalls, jenseits der sichtbaren Sterne, ahnte, und wusste, dass ich sie niemals erreichen würde, und dass sie ein faszinierendes Rätsel bleiben sollten. Von einer glühenden Sehnsucht nach diesen Ozeanen von Dunkel und Licht war ich plötzlich befallen, ich schloss meine Augen und sah, halb wachend, halb träumend, wie mein entfesselter Körper über den Wolken schwebte und spürte tausendfache Sterne wie Sand durch meine Finger rieseln. Von diesen Visionen entzückt setzte ich mich auf den Rand des Brunnens und tauchte meine Hand träumerisch ins kühle Wasser hinein. Verliebte Wasserjungfern spielten zu zweit auf der Oberfläche, suchten einander und schienen fast zu tanzen – sie sahen aus wie Feen, in schimmerndem Gewand.  Das liebliche Plätschern lullte mich ein und bald sah ich, wie das Wasser höher wurde. Es schien, als quölle aus dem dunklen Grund des Brunnens ein mächtiger Strom. In wenigen Augenblicken trat das Wasser über den Rand und überschwemmte den ganzen Vorplatz, rann die Treppen herab, im fröhlich hervorquellenden Guss. Ohne Angst und mit leidenschaftlicher Faszination sah ich, wie das Wasser immer höher würde, wie ich nun auf sanften Wellen schwebte und zum Himmel empor schwamm. Die ganze Erde war zum Ozean geworden und das Wasser stieg, stieg immer höher, bis Wolken und Wellen ineinander verschmolzen, bis die Sterne greifbar wurden, bis ich nicht mehr wusste, ob ich mich im Wasser oder im Himmel bewegte – ich trieb im puren ätherischen Blau. Freude überwältigte mich. Aber plötzlich fühlte ich, wie es kalt und nass wurde und erschreckt schlug ich die Augen auf. Ich war eingeschlafen und in den Brunnen gefallen. Durchnässt, beschämt, aber sehnsüchtig auf meinen herrlichen Traum sinnend, begab ich mich im Mondschein nach Hause. 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Image : Caspar David Friedrich, Mann und Frau den Mond betrachtend. Source : www.gemaelde-katalog.de