Die Faszination des Sammelns




Als die Welt noch in Ordnung war
Früher gab es die Briefmarkensammler, die Münzsammler und die Sammler von Autogrammen und Postkarten. Ich war ein solcher Briefmarkensammler. Meine Spezialgebiete: Frankreich, die Länder der Alpenregion und das britische Empire. Und mein ganzer Stolz: eine Marke der Deutschen Reichspost von 1943 mit einem Aufdruck in Kyrillisch. Ein Kriegsbeutestück.

Jeden Samstag ging ich mit meinem Vater zum Philatelistenverein im Ort. Dort standen an Tischen Männer in Anzügen, unter ihnen ein paar Frauen in Blusen und Röcken. Sie hielten kleine graue Pappschachteln in den Händen und schauten sich gegenseitig ihre Schätze an. Könige, Präsidenten und berühmte Persönlichkeiten grinsten von den Briefmarken herab. Die Verkäufer hatten auf kleinen Kärtchen ihren Namen und ihre Adresse notiert. Waren beide Parteien mit dem Preis einverstanden, wechselten die Marken den Besitzer. Jeder, der eine Marke kaufte oder verkaufte, trug sie gewissenhaft in einen großen blauen Katalog ein. So konnte jeder nachvollziehen, welchen Wert die Sammlung hatte.

Der Reiz des Sammelns
Doch warum sammelten wir? War es die Lust am Haben? War es die Faszination für Geschichte und fremde Länder? War es die Freude am Tauschen und Feilschen? Vielleicht war es eine Mischung aus all dem.
Das Schönste am Sammeln war für mich das Gefühl, etwas Besonderes zu besitzen, etwas Einzigartiges, etwas, das nicht jeder hatte. Ich sah in meiner Sammlung nicht nur eine Aneinanderreihung von Briefmarken. Ich sah eine Welt in Miniatur, eine Welt voller Geschichten und Abenteuer.
Der Niedergang des Sammelns
Doch dann kam das Internet. Plötzlich konnte man Briefmarken auf der ganzen Welt kaufen, ohne das Haus zu verlassen. Die Briefmarkensammlervereine leerten sich. Die Sammler blieben zu Hause und starrten auf ihre Computerbildschirme.

Ich bin heute noch Briefmarkensammler. Doch meine Sammlung ist nicht mehr so umfangreich wie früher. Ich habe keine Lust mehr, jedes Wochenende zu einem Briefmarkensammlerverein zu fahren. Ich kaufe meine Marken lieber online. Und ich bin nicht mehr so stolz auf meine Sammlung. Denn ich weiß, dass jeder, der will, eine ähnliche Sammlung zusammenstellen kann.
Das Sammeln hat seinen Reiz verloren. Es ist nicht mehr so besonders, etwas Besonderes zu besitzen. Denn das Besondere ist heute überall verfügbar.

Doch die Faszination bleibt
Trotzdem bleibt die Faszination des Sammelns. Denn das Sammeln ist mehr als nur das Ansammeln von Dingen. Es ist eine Möglichkeit, der Welt Bedeutung zu verleihen. Denn das Sammeln bedeutet, die Welt zu ordnen und zu katalogisieren. Es bedeutet, der Welt eine Struktur zu geben. Und das ist etwas, das wir Menschen schon immer getan haben.

Deshalb werden wir auch weiterhin sammeln. Wir werden Briefmarken sammeln und Münzen und Autogramme und Kunstwerke. Denn das Sammeln ist ein Teil von uns. Es ist ein Teil unserer menschlichen Natur.